Hotel Seattle von Lily King


Seit Kurzem schreibe ich regelmäßig Kurzgeschichten. Jeden Tag ein paar Sätze, kleine Szenen oder komplette Geschichten, ganz für mich. Bitte fragt nicht, ob ihr sie lesen dürft. Es hat einen Grund, dass ich die Geschichten nicht poste. Sie sind einfach noch zu schlecht, unausgereift und unfertig. Aber es macht mir überraschend viel Spaß diese kurzen Sequenzen zu entwickeln.

Diese tägliche Übung hat auch meinen Blick auf Kurzgeschichten noch einmal komplett verändert. Ich habe phasenweise schon immer wieder gern Kurzgeschichten gelesen. Aber im Moment fasziniert mich diese Form ganz besonders. Es ist wirklich eine Kunst, wenn man es schaffen kann in wenigen Sätzen Figuren zu skizzieren, ihnen Leben einzuhauchen und genau den richtigen Rahmen für eine spannende, in sich sinnvolle Handlung zu wählen. Lily King schafft in „Hotel Seattle“ genau das.

Beinahe jede ihrer Geschichten hätte das Potenzial ein eigener Roman zu sein. Vor allem die erste Geschichte „Kreatur“ hat so eine ganz besondere Spannung. Durch die träge Stimmung, spätsommerliche Hitze und die vielen interessanten Figuren, fühlt es sich an wie der Einstieg in einen Roman, der mindestens 300 Seiten einnehmen müsste. 

Es hat mich außerdem überrascht, welche Dunkelheit sich zum Teil hinter diesem farbenfrohen Cover versteckt. Lily King scheut auch problematische Themen wie sexuelle Gewalt, Sucht und Krankheit nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie all dem inhaltlich gleichermaßen gerecht wird. Ob all diese Themen gleichermaßen aufgearbeitet und reflektiert werden. Manchmal hätte ich mir zum Beispiel auch eine Inhaltswarnung gewünscht. Aber erzählerisch hat mich beinahe jeder Text irgendwie getroffen.

Alle Geschichten vereint, dass die Figuren ein gewisses „herausgerissen sein“ aus dem Alltag erleben. Sie erzählt von Menschen im Krankenhaus oder im Urlaub, im Hotel oder noch auf der Reise. Niemand ist geborgen in seinem Zuhause, niemand wirklich „angekommen“ in seinem Leben. In diesem Zusammenhang geht es in den Geschichten auch oft um Verlust und falsche Erwartungen. Mal sind es die Träumereien eines jungen Mädchens, die hart an der Realität zerplatzen, mal ein alter Mann der an der Sterblichkeit eines geliebten Menschen verzweifelt.

Sonst haben die Texte keinen gemeinsamen roten Faden. Es gibt keine Verbindungen zwischen den Geschichten und auch die Figuren haben kaum Gemeinsamkeiten. Dadurch fühlt man sich beim Lesen manchmal ein wenig hin und her geworfen. Aber es lädt auch dazu ein die Texte nicht am Stück sondern „immer mal vereinzelt“ zu lesen. Das hat mir auch dahingehend besonders Spaß gemacht, dass die Situationen zum Teil schon sehr skizzenhaft wirken. Wie zum Beispiel bei „Warten auf Charlie“ passiert ganz viel eigentlich nicht im Text, sondern das Wesentliche bleibt unserer Phantasie überlassen.

Am meisten bewegt hat mich aber die letzte Geschichte „Der Mann an der Tür“. Darin beschreibt Lily King eine nur so leicht verschobene Realität, dass man gar nicht genau einordnen kann, was man da liest. Alles hat so einen Hauch von Alptraum oder Fiebertraum. Doch der Kampf, den die Protagonistin da kämpft, ist nicht der mit einem Monster unter dem Bett, sondern mit ihren eigenen Selbstzweifeln. Diese Geschichte hat mich nach der Lektüre inspiriert zurückgelassen. Denn sie trägt die Hoffnung in sich, dass wir doch irgendwann „ankommen“ können.

 

„Hotel Seattle“ von Lily King, übersetzt von Hanna Hesse, erschienen bei C.H. Beck Literatur, 252 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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