Dystopien auf See
„Auf See“ von Theresia Enzensberger steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Völlig zurecht, wenn ihr mich fragt. Der Roman erzählt von zwei Frauen: Yada lebt auf der „Seestatt“, einer abgetakelten Hightech-Insel in der Ostsee, auf der ihr extrem reicher Vater einen alternativen Staat schaffen wollte.
Helena ihrerseits hat quasi aus Versehen eine Sekte gegründet. Beide leben in einer scheinbar gar nicht mehr so fernen Zukunft. Von Klima und politischen Krisen geschüttelt, wird unsere Gesellschaft konsequent zu einem ganz alltäglichen Weltuntergang weiterentwickelt.
Thematisch hat mich das total abgeholt. Der Roman handelt von gescheiterten „Träumen“, angeblichen Utopien, die beim richtigen Hinsehen schon in ihrer Idee Dystopien sind. Denn in den Visionen von Tech-Milliardären wie Peter Thiel & Co, vermag ich keine Utopien zu sehen. Sie stellen sich Systeme vor, die nur für die privilegiertesten Menschen unserer Gesellschaft funktionieren könnten. Alle anderen kommen unter die Räder. Das wird auch im Roman toll inszeniert.
Dafür lesen wir im Wechsel die Stimmen der 18jährigen Yada und der etwa 37jährigen Helena. Ganz hab ich Yada ihr Alter nicht abgenommen, die Ältere wirkt wesentlich authentischer und nahbarer.
Mitreißend sind beide und der für Yada gewählte Ton soll wohl, passend zum heruntergekommenen Setting, eher an alte Schauerromane erinnern. Ein modernes Gruselschloss.
Besonders geliebt habe ich jene mit „Archiv“ überschriebenen Kapitel dazwischen. Sie erzählen wirre Geschichten auf See: von fiktiven Staatsgründungen auf abgelegenen Archipelen, Sekten auf Schiffen und der kolonialen Ausbeutung kleinster Inselchen. Diese wahren aber kuriosen Begebenheiten sind so locker erzählt, dass sie beinahe ebenso fiktiv wirken, wie der Rest des Romans. Oder aber den Rest realistisch wirken lassen. Das kann man sich wohl aussuchen.
Sie geben ein Gefühl davon wie Gier und Machtstreben schon immer dafür gesorgt haben, dass Gesellschaften zugrunde gehen.
„Auf See“ von Theresia Enzensberger, erschienen im Hanser Literaturverlag, 272 Seiten.
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