Rezension: Der Anhalter von Gerwin van der Werf
Um die kriselnde Ehe zu retten und die Beziehung zu seinem Sohn zu verbessern, möchte Tiddo mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn eine lang ersehnte Reise nach Island antreten. Mit einem Wohnmobil fahren sie auf der Ringstraße über diese besondere, spröde Insel und finden wieder zueinander. So lautet jedenfalls der Plan für den Urlaub. Doch dann kommt der titelgebende Anhalter eben diesem Plan in die Quere. Um mal etwas Abenteuerliches zu erleben, nimmt die Familie ein Pärchen als Anhalter auf. Die junge Frau verlässt die Gruppe am nächsten Halt, doch Svein, der Anhalter, findet immer wieder Argumente doch mit der Familie weiterreisen zu können.
Der Klappentext des Buches trägt dann ein bisschen dick auf, der “Albtraum” zu dem die Reise der Familie laut diesem Text wird, ist ein eher Alltäglicher. Trotzdem entwickelt die Geschichte wirklich einen extremen Sog, weil sich im Laufe der Handlung so eine unheilvolle Stimmung aufbaut, dass man permanent auf den großen Knall wartet. Dadurch ist “Der Anhalter” von Gerwin van der Werf auch ohne große Action spannend.
Ich habe das Buch gern gelesen, schon allein weil mir der Stil des Autors sehr liegt. Klar und schnörkellos, dabei aber nicht zu knapp und mit gelungenen sprachlichen Bildern wird man ohne Umschweife in die Handlung gezogen.
“Innen lauter Holz, dunkel gebeizte Balken, skandinavische Gemütlichkeit, die man leicht mit Melancholie und Depression verwechseln konnte.”
Auch die Atmosphäre des Urlaubs, der isländischen Landschaft und der zum Teil wirklich feindseligen Stimmung in der Familie wird durch diesen Erzählstil toll herausgestellt. Ich war leider noch nie in Island, hatte aber sofort die Bilder der rauen und doch wunderschönen Landschaft vor Augen.
Vielleicht ist es der Kontrast zu dieser Kulisse, aber irgendwie hat diese Mischung eine besondere Faszination. Die Beschreibungen der ruhigen, kalten Natur Islands werden gebrochen von den spannenden Konflikten der Figuren.
Isa und Tiddo sind seit Jahren verheiratet, das “glücklich” stellt man von Seite zu Seite mehr in Frage. Als später klar wird, woran die Ehe eigentlich schon längst zerbrach, stand ich zwischen Überraschung und Mitleid. So viel Ungesagtes zwischen zwei Menschen, wie bei zwei tektonischen Platten, die zusammenprallen, entsteht da Spannung und Erschütterung.
Zu seinem Sohn Jonathan hat Tiddo, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, keine wirkliche Beziehung. Mit hilflosen Gesten versucht Tiddo sich als Vater zu inszenieren, die absurden Szenen die dabei entstehen, zeigen nur mehr die Kluft in der Familie.
Der Anhalter Svein, den sie an der isländischen Ringstraße auflesen und nicht mehr so recht los werden, ist da nur das i-Tüpfelchen. Er fördert ihre Brücke und Konflikte vielleicht zu Tage, der Auslöser dafür ist er allerdings nicht.
Irgendwie hatte ich allgemein das Gefühl, dass ich Sveins Rolle nicht ganz verstanden habe. Was bringt er der Handlung? Zwar verstärkt er immer wieder die bestehenden Probleme und macht die Unstimmigkeiten vor allem zwischen Isa und Tiddo deutlich, so bedeutsam wie ich erwartet hatte, war er allerdings in meinen Augen nicht. Seine Anwesenheit trägt natürlich zur unheilvollen Stimmung der Geschichte bei, auf der anderen Seite entwickelt sich daraus wenig. Manchmal habe ich mich fast gefragt, ob er nur eine Metapher für Tiddos Unsicherheiten und Probleme ist. Wäre das ein bisschen weit her geholt?
Ich bin kein großer Fan dieses Anhalters, aber immerhin bietet er viel Potenzial für Überlegungen, Interpretationen und Diskussionen zu diesem Buch. Genau so steht es mit Tiddo, dessen Erzählperspektive immer wieder Fragen aufwirft. Kann man Tiddo trauen? In welchem Umfang ist er ein unzuverlässiger Erzähler? Beim Lesen fallen kleinere und größere Ungereimtheiten zwangsläufig auf, so dass ich schließlich den ganzen Rest in Zweifel zog.
Insgesamt hatte ich viel Spaß mit diesem Buch, obwohl es mich mit vielen Fragen und unbefriedigend wenigen Antworten zurückgelassen hat. Ein Buch für Leser*innen, die gern über die verschiedenen Ebenen einer Erzählung nachgrübeln und nicht unbedingt auf die vollständige Auflösung aller Konflikte und Erzählstränge hoffen.
„Der Anhalter“ von Gerwin van der Werf, übersetzt von Marlene Müller-Haas, erschienen im S. Fischer Verlag, 288 Seiten
Foto: eipesch.com
Liebe Alexandra,
ich lese das Buch aktuell auch, weswegen ich deine Rezension nur bis zu dem Punkt gelesen habe, als du sagtest, dass du noch nie auf Island warst. Die Beschreibungen kommen dem ganzen schon sehr nah, besonders am Anfang als es um die Chinesen geht. Die Souvenir-Shops sind exakt an der gleichen Stelle, wie beschrieben. Ich hatte jeden Ort vor Augen. Ich habe sogar die Gletscherwanderung gemacht. Auf dem Weg zum Parkplatz hatte damals ein Wohnmobil, das hinter uns fuhr, einen kleinen Unfall, weil es mit der Straße nicht klar kam.
Liebe Grüße
Jule
Liebe Alexandra,
mir ging es da wohl ganz ähnlich wie dir. Das irgendwas an Tiddo nicht stimmen konnte, war mir irgendwie von Anfang an klar – ich konnte nur nicht so recht sagen, was genau es war. Auch die Rolle von Svein bereit mir ein wenig Kopfzerbrechen. Ich hatte tatsächlich auch mit mehr gerechnet, zumal es im Klappentext groß angeteasert wurde.
Letztendlich gefiel es mir vor allem aufgrund der Sogwirkung, der Sprache des Autors und der Landschaftsbeschreibungen(da hätte ich mir allerdings eine Karte im Buch gewünscht – ich war ständig am googeln) ganz gut. Nichts, was langfristig im Kopf bleibt, aber für den Moment recht unterhaltsam.
Liebe Grüße
Isabel
Absolut unbefriedigendes Ende – hatte mir eine Überraschung erhofft nach der durchaus spannenden Lesereise. War vielleicht Tiddo selbst letztlich „Der Anhalter“?