Die Geister einer Familie


Stell dir vor du hast Jahre, nein Jahrzehnte, auf deinen Lebenstraum hingearbeitet. Dann ist es so weit: der große Tag ist gekommen und du hast erreicht, wofür du all den Schweiß und die Tränen auf dich genommen hast. Und an diesem Tag stirbst du.

Das ist die Ausgangssituation in „Dschinns“ von Fatma Aydemir. Sie erzählt die Geschichte von Hüseyin, der in den 1970ern über das Anwerberabkommen aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. Hüseyin war immer ein Arbeiter, hat viel geschuftet und sich wenig gegönnt. Auch in der kleinen Mietwohnung in Deutschland wurde selten etwas neu eingerichtet, nur das nötigste angeschafft. Denn Hüseyins Traum war es, nach seiner Rente wieder in die Türkei zu ziehen. In einer schönen Wohnung in Istanbul wollte er seinen Lebensabend verbringen. Endlich nicht mehr „der Ausländer“ in einem Land sein, das ihn nie wirklich willkommen geheißen hat. Doch als er gerade in der neuen Wohnung in Istanbul angekommen ist, die teuren neuen Möbel sind noch nicht mal wirklich aufgebaut, bekommt Hüseyin einen Herzinfarkt und stirbt. 

Mir hat schon dieses erste Kapitel das Herz gebrochen. Es ist unabhängig von dieser Geschichte über Migration und Heimat einfach so ein starkes Bild: wie wir immer im Leben kämpfen, rudern und strugglen nur um dann „Tja, Sorry!“ kurz vor dem Ziel einfach alles wieder zu verlieren. Sein Traum wird mit so viel Liebe beschrieben, sein Tod mit so viel Schmerz. Das erste Kapitel ist einfach bittersüß. 

Eigentlich steckt bereits in diesem kurzen Abschnitt ein ganzer Roman. Aber wirklich spannend wird es danach. Obwohl wir einiges über Huseyin erfahren, bleibt seine Figur im Nebel. Wir wissen was sein großer Traum war, aber nicht was für ein Mensch Huseyin gewesen ist. In den übrigen fünf Kapiteln erzählt Fatma Aydemir schließlich die Geschichte seiner Familie, die Handlung erstreckt sich dabei lediglich über zwei, drei Tage. Mit Hüseyin kamen seine Frau Emine und die vier gemeinsamen Kinder nach Deutschland. Nacheinander lässt sie uns in die Köpfe dieser Familie schauen und die Fragen beantworten: 

Wer war Hüseyin? Was war das für eine Familie?

Durch ihre Brille lernen wir den schweigsamen Vater, aber auch die ganze Familie und ihre Tragödien kennen. Es geht dabei auch ganz allgemein um Familien, die schweigen. Die nicht miteinander sprechen, aber die auch einfach viele Themen und Trauma ungesagt lassen. Die darüber reden, was am Silvesterabend zu Abend gegessen wird, nicht aber darüber, warum eine Tochter ihren Ehemann verlassen möchte und muss. 

Ich kann und will nicht alles ansprechen, was in diesem Roman steckt. Dafür ist er zu komplex, zu voll Themen und Gefühle. Ganz sicher bin ich mir, dass jede*r beim Lesen eine andere Figur besonders lieb gewinnen wird.

Etwa Ümit, den jüngsten Sohn der Familie. Er ist schwul und unheimlich allein damit. Er hat seine Eltern nie als Menschen erlebt, denen man sich anvertrauen kann. Ähnlich erging es Sevda, der ältesten Tochter. Sie hat mit der Familie gebrochen, ihre eigenen Kämpfe erlebt. Der Tod des Vaters erwischt sie nun völlig kalt. Plötzlich muss sie sich existenzielle Fragen stellen und alte Konflikte wieder durchleben. 

Aber auch Perihan und Hakan tragen ihre Sorgen mit sich herum. Besonders Perihan wirkt dabei manchmal eher wie eine Besucherin oder Beobachterin von Außerhalb, auch wenn da eine starke Verbundenheit zur Familie ist. 

Von ihrem Ton unterscheiden sich die einzelnen Abschnitte nur wenig voneinander. Hakan, der älteste Bruder, hat vielleicht einen schrofferen Ton als seine Geschwister. Aber alle erzählen als „ich“ ganz direkt und nah von ihren Kämpfen, Freuden und Problemen. Die Kapitel zu Hüseyin und Emine, den Eltern, sind jedoch fast wie ein Lied in „du“ an die Figuren gerichtet. 

Bei einer Lesung, sagte die Autorin, dass sie ihre unterschiedliche Distanz zu den Figuren durch diese unterschiedlichen Perspektiven verdeutlichen wollte. Die Eltern werden mit „du“ angesprochen, ihre Gedanken mag sie nur in Vermutungen schildern. Weil diese Generation eben eine ist, die nicht viel über sich selbst spricht. Die Kinder hingegen haben eine eigene Perspektive, sie sprechen für sich selbst. Sie sind es auch ein Stück weit gewohnt, allein für sich einstehen zu müssen. 

Wer war Emine?

Hüseyin ist der Anfang, Emine bildet den Abschluss des Romans. Die Mutter der Familie, die in einigen Beschreibungen mindestens genau so diffus bleibt, wie der Vater. Sie wird als Frau beschrieben, die nie für sich entscheiden durfte, die in Konflikten manchmal hart wirkt, aber auch unter einer tiefen Traurigkeit leidet. 

Auf ihr Kapitel war ich besonders gespannt. Habe ich mir doch einen besonders nahen Blick auf Huseyin erwartet und einen besonders authentischen Blick auf die Familie. 

Doch Emines Kapitel ist für mich leider mit Abstand der schwächste Teil des Buches. In ihr fügt sich auf der einen Seite das Buch zusammen, alle Perspektiven finden in ihr einen Brennpunkt. Sprachlich hat das Wucht, aber auf der anderen Seite wird dieses Kapitel so mit Drama überfrachtet, dass für die stillen Tragödien kaum noch Luft bleibt. 

Emine hätte für meinen Geschmack auch mit wesentlich weniger „funktioniert“. Es kommt einfach zu viel, zu unwahrscheinliches zusammen. Ihre Depression und jahrelange Sprachlosigkeit, die Tatsache, dass Emine immer ihrer Entscheidungen beraubt wurde, waren für mich ausreichend. 

Die titelgebenden Dschinns, die Emine belasten, das was Emine dann im wahrsten Sinne des Wortes unter sich begräbt, war mir schlicht das Stück zu viel. Aber es ist gleichzeitig ein perfektes Kapitel um darüber zu diskutieren. Man findet es furchtbar oder großartig, man findest unendlich viele Themen in diesem Kapitel und überliest noch mal mehr.

 

„Dschinns“ von Fatma Aydemir, erschienen im Hanser Literaturverlag, 368 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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