Nebenan


Auch jetzt noch, Tage nachdem ich die Lektüre beendet habe, kreisen meine Gedanken um dieses Buch. „Nebenan“ von Kristine Bilkau hält mich gedanklich gefangen. Eigentlich ist es ein stilles Buch, das unscheinbar daher kommt. Aber in meinem Kopf hat es eine düstere Spannung entwickelt, einen Sog, der mich schauern lässt. 

Es geht um die banale Frage, wer bemerken würde, wenn man verloren geht? Wenn du und die Menschen in deinem Haushalt von einem auf den anderen Tag verschwänden, wann würde es jemand bemerken? Wer wäre das und was würde dieser Mensch tun?

Im Buch ist es das Haus einer jungen Familie in einer beschaulichen Wohnsiedlung, das plötzlich leer steht. Niemand hat ihren Umzug bemerkt, keines der Familienmitglieder verabschiedete sich bei den Nachbarn. Sie waren einfach plötzlich weg.

Die Bewohner der Siedlung sind zum Teil ältere Leute, zum Teil junge Familien, die aus Hamburg in die friedliche kleine Gemeinde ziehen. Es gehört zum Alltag, dass Häuser die Bewohner*innen wechseln. Eben weil alteingesessene Paare langsam sterben oder ins Heim ziehen und die Häuser neu bezogen werden. 

Aber dieser Verlust ist anders, spürbar. Wir erfahren wenig über die verschwundene Familie, denn auch die Nachbarn kannten sie nicht gut. Außerdem haben die Nachbarn sowieso alle mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Aber da ist dennoch eine Leerstelle, die sie alle irgendwie beschäftigt. Um diese gut sichtbare, laut schweigende Lücke kreisen die Gedanken der verschiedenen Menschen in der Nachbarschaft.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen dabei drei Frauen in ganz verschiedenen Lebenssituationen: 

Da ist Julia, die mit ihrem Mann aus einer kleinen aber teuren Wohnung in Hamburg gerade in ein günstigeres und geräumiges Haus gezogen ist. Sie leben Bio und sind ambitioniert in ihren Jobs. Er als Biologe und Umweltschützer, sie als selbstständige Keramikerin. Doch mehr als ihre Arbeit beschäftigt Julia ihr unerfüllter Kinderwunsch. Sie wünscht sich eine Familie, Geborgenheit und Verbundenheit. Dies alles sieht sie ausschließlich mit einem Kind erfüllt. Immer wenn ihr Menschen näher kommen, zieht sie sich zurück. Sie wirkt scheu und ängstlich, versteckt sich in ihrem Atelier vor der Welt und beobachtet perfekt inszenierte Familien auf Instagram.

Dann lesen wir von Astrid, einer toughen Frau Anfang 60. Sie ist als Ärztin bei eigentlich allen im Dorf beliebt, Mutter von drei erwachsenen Söhnen und trotz allem irgendwie einsam. Sie hat sich von ihrer besten Freundin entfremdet und erhält seit Kurzem seltsame Drohbriefe. Und schließlich gibt es als dritte in dieser Konstellation Astrids Tante. Zwar bekommt diese keine eigene eigene Stimme, wir lesen also nichts aus ihrer Perspektive, aber sie verbindet Astrid und Julia wie mit feinen Fäden. Vor allem in Astrids Kapiteln ist es zudem das Wissen um die Sterblichkeit ihrer engsten Bezugsperson, die die Abschnitte bestimmt.

Denn der Roman erzählt von den vielen dünnen und dickeren sozialen Verbindungen, die uns im Leben verankern. Von Freundschaften und Beziehungen zu unseren Eltern oder Kindern. Er erzählt von sterbenden Kleinstädten und den Fassaden, die wir gegenüber unserer Umwelt aufbauen. Gegenüber unseren Nachbarn mit einem falschen lächeln am Gartenzaun, gegenüber der Welt mit inszenierter Glückseligkeit auf Instagram & Co. 

Das alles ist poetisch aber ganz klar geschrieben. Fein beobachtet und mit Raum für eigene Gedanken und Deutungen, aber ganz und gar nicht abgehoben oder „unlesbar“. Ich habe ja manchmal das Gefühl ernste Literatur wird fälschlicherweise mit möglichst verworrenem Stil gleichgesetzt. Kristine Bilkau hingegen beweist, dass man ernste, düstere und schwere Themen auch mit Leichtigkeit und Schönheit transportieren kann.

Denn die Autorin entwickelt Bilder, die eigentlich völlig harmlos sind, aber immer wieder das Grauen des Alltäglichen heraufbeschwören. Mir hat sie damit eine Gänsehaut nach der anderen beschwert. 

Etwa durch die Beschreibungen der Jalousien des leeren Hauses, bei denen die Frauen nie ganz sicher sind, ob sie sich nicht doch noch einmal bewegt haben. Oder durch das Bild der verstreuten Post auf einem nächtlichen Feld, der kleinen Briefchen der Kinder unter der Terrassentür und einer vertrockneten Pflanze im Küchenfenster. 

Durch all das entsteht eine düstere Atmosphäre, die in all der ruhigen und beschaulichen Umgebung ganz viele Möglichkeiten für „was wäre wenn“ liefert.

So hat diese unscheinbare, ruhige aber gar nicht so harmlose Geschichte mich völlig gefesselt und an meinen Nerven gekratzt. Sie hat sich in mein Denken gefressen und ich wünsche mir mehr von diesen Geschichten. Die unseren Alltag sezieren und dabei das Besondere freilegen.

Durch das Setting an den Elbkanälen und die Konstellation der plötzlich verschwundenen Familie erinnerte „Nebenan“ mich stark an die Berichte über den Fall der Familie Schulze in Drage. Nur dass im Roman nicht Voyeurismus und Spekulationen über die möglichen düsteren Seiten einer Familie im Mittelpunkt stehen, sondern die Unsicherheit und die Leere nebenan.

 

„Nebenan“ von Krisitne Bilkau, erschienen im Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.dekaufen.

+ There are no comments

Add yours