Wir sind das Licht


In „Wir sind das Licht“ geht es um vier Menschen, die fest daran glauben von Licht und Liebe allein leben zu können. Deshalb verzichten sie auf Nahrung, hungern sich beinahe zu Tode. Bis eine von ihnen tatsächlich stirbt. Die sogenannte „Lichtnahrung“ kostet immer wieder Menschen das Leben. Gerda Blees hat sich in ihrem Roman am Fall einer Frau in den Niederlanden orientiert, die dieser Sekte 2017 zum Opfer gefallen ist. Die Autorin hat die Website der Wohngruppe und andere Quellen herangezogen, um sich den Figuren und der Thematik zu nähern. In meinen Augen ist ihr das großartig gelungen.

Lasst uns allein mal darüber sprechen, wie genial die Form dieses Romans gewählt ist! Erzählt wird er nämlich in der 1. Person Plural. Verschiedene Gegenstände und abstrakte Konzepte bilden dieses „wir“ und berichten mit ihrem jeweils ganz eigenen Fokus über die Geschehnisse. Es sprechen unter anderem die Nacht, der Tatort, das tägliche Brot, die Nachbarn, der Rechtsbeistand, die Fakten, ein schwacher Orangenduft, Klang und Liebe, ein Cello, das Internet, ein Paar Wollsocken, der Zweifel und die Demenz.

Dadurch wirkt die Geschichte zugleich spannend und seltsam distanziert von den Hauptfiguren. In meinen Augen ist das besonders gelungen, weil deren Handeln einfach wirklich nicht nachvollziehbar scheint.

Und obwohl man ja genau weiß, was passiert ist, entsteht allein durch diese Form eine ungewöhnliche Anspannung, ein seltsamer Sog. Wirklich ganz großes Kino. Ich hatte so viel Spaß an der Lektüre. Obwohl ich mich mit solchen „experimentellen“ Formen sonst häufig etwas schwer tue, hat Gerda Blees (bzw. die Übersetzerin Lisa Mensing) das auch sprachlich wirklich ganz großartig glaubhaft und locker gelöst. 

Der Roman stellt die Frage, ob es Schuld gibt, wenn jemand verhungert und drei Andere zusehen, ohne zu helfen. Wie ist sie zu bewerten, die juristische, aber auch die emotionale und moralische Schuld?

Eingeschoben gibt es im Roman eine kleine Nebenerzählung einer „normalen“ Essstörung. Auch hier stellt die Geschichte in Frage, was Menschen dazu bringt sich so etwas anzutun. Wieso hungert man sich (beinahe) zu Tode, obwohl Nahrung allgegenwärtig scheint. Obwohl sie nicht nur Ernährung ist, sondern Genuss und auch Gesellschaft sein kann? Es scheint in beiden Fällen um totale Kontrolle zu gehen. Vielleicht als Reaktion auf ein Gefühl von Kontrollverlust?

 

Bei der Dynamik dieser kleinen Sekte lassen sich außerdem spannende Parallelen zur Querdenker-Bewegung ziehen. Die treibende Kraft der kleinen Gemeinschaft im Roman versucht durch Manipulation und emotionale Erpressung die anderen zu (ver)leiten. Wo sie im Leben eher eine Versagerin zu sein scheint, bekommt sie in diesem esoterischen Umfeld plötzlich wieder Bedeutung. Da ist sie wieder wer. 

Und die Gurus, denen die hoffnungsvollen aber leichtgläubigen Menschen da folgen, betreiben oft ziemliche Haarspalterei. Sie sagen nicht, dass sie nichts essen. Sie sagen, dass sie nicht essen MÜSSTEN und treiben ihre Anhängerschaft dazu immer noch extremer zu fasten. Sie versprechen Freiheit und inneren Frieden, was doch sehr schön und harmonisch klingt. In einer Welt, in der andere immer das „höher, schneller, weiter“ wollen, ist das aber auch nur eine andere Form von „jeder kann alles schaffen“. Woraus zwangsläufig folgt, dass derjenige, der es nicht schafft, wohl selbst etwas falsch machen muss. 

Und so erzählt Gerda Blees schlussendlich eine Geschichte über emotionalen Druck und Menschen, die an ihm zerbrechen. Psychologisch super spannend und wirklich beeindruckend.

 

„Wir sind das Licht“ von Gerda Blees, übersetzt von Lisa Mensing, erschienen im Hanser Literaturverlag, 240 Seiten. Werbung: Wenn du mich unterstützen möchtest, kannst du das Buch (oder beliebige andere) über meine Partner genialokal, Hugendubel, Bücher.de kaufen.

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